Nachlass Christian Borchert
Selbst Fotografinnen und Fotografen im fortgeschrittenen Alter haben häufig noch nicht geklärt, was langfristig mit ihrem Archiv passieren soll. Noch heikler kann die Nachlass-Frage sein, wenn ein Fotograf plötzlich stirbt. Wie im Fall von Christian Borchert, geb. 1942 in Dresden, der im Sommer 2000 in Berlin durch einen Badeunfall ums Leben kam. Einen umfassenden Einblick in sein Werk bietet die Retrospektive „Christian Borchert: Tektonik der Erinnerung", die ab Herbst 2019 in Dresden zu sehen war und ab Juni 2020 im Sprengel Museum Hannover gezeigt wird. Auch neue Bücher sind zu seinem Werk erschienen. Voraussetzung dafür war ein gut betreuter und aufgearbeiteter Nachlass.
Es gab kein Testament, keine Ehefrau oder andere nahe Verwandte. Zwei Vettern und eine Cousine wurden plötzlich Erben eines umfassenden Fotoarchivs. Eine Situation, die im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass ein Werk zerschlagen wird, die „Perlen“ verkauft werden und der Rest in irgendeinem Keller oder gar im Müll landet. Freunde und Weggefährten von Christian Borchert sowie weitsichtige Experten in öffentlichen Institutionen haben das verhindert. Bertram Kaschek, Kurator der Retrospektive, schreibt im gleichnamigen Buch: „Vor allem der Verleger und Fotograf Hansgert Lambers, Borcherts enger Freund und Vertrauter, hat sich hier verdient gemacht, indem er die Aufteilung der Hinterlassenschaften auf verschiedene Archive und Sammlungen geschickt koordinierte. Im Zusammenspiel mit Ulrich Domröse von der Berlinischen Galerie, Hans-Ulrich Lehmann vom Dresdner Kupferstich-Kabinett sowie vor allem Wolfgang Hesse, dem damaligen Leiter der Deutschen Fotothek Dresden, der sich in besonderer Weise für den Nachlass engagierte, fanden Borcherts umfangreiche fotografische Materialien in den Monaten nach seinem Tod den Weg in Institutionen, die in der Lage waren, sich in angemessener Weise um den ihnen jeweils anvertrauten Nachlassanteil zu kümmern.“
Hansgert Lambers lernte nach dem Unfall Borcherts Cousine kennen, ein vertrauensvolles Verhältnis konnte sich zu ihr ebenso entwickeln wie zu dem Nachlassverwalter. So sorgte Lambers auch dafür, dass Borcherts Kamera und sein Auto an Kollegen verkauft werden konnten. Er selbst kaufte Borcherts Fotobibliothek (die sich mittlerweile im Museum für Fotografie in Berlin befindet).
Auch Kurator Andreas Krase sichtete in Abstimmung mit Wolfgang Hesse die Bestände in Borcherts Wohnung. Gut 19 Jahre später erzählt Krase, wie sehr ihn dieser Ort beeindruckte. Die 72 qm in Berlin-Pankow waren weniger Wohnung als vielmehr ein „Archiv, das den Inhaber des Archivs verdrängt“. Dazu gehörten überall kleine Zettel, eine „sich selbst ermahnende Selbstverwaltung“. Hier war ein Nachlass bereits perfekt geordnet. Eindrücklich zeigen das Fotoserien von Maria Sewcz und Andreas Rost, die kurz nach Christian Borcherts Tod in der Wohnung entstanden.
Konkret umfasste der fotografische Nachlass rund 230.000 Schwarz-Weiß-Negative, meist mit Kontaktbögen, etwa 2.300 Farbdiapositive, rund 18.000 Arbeitsabzüge in kleineren Formaten sowie 4.100 Abzüge in Ausstellungsformaten. Letztere gingen zunächst komplett an die Berlinische Galerie. Später hat das Dresdner Kupferstich-Kabinett davon gut 900 Abzüge erworben. Weitere Bestände (Dubletten) übernahmen das Kunstmuseum Moritzburg Halle / Saale und die Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur in Köln. Das komplette Arbeitsarchiv mit Negativen, Kontaktbögen und kleinen Abzügen samt dazugehörigen Karteien und Materialien gingen an die Deutsche Fotothek in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden. Der schriftliche Nachlass von Borchert befindet sich in der Handschriftensammlung der SLUB.
Übereinstimmend berichten Weggefährten von Christian Borcherts pedantischen Ordnungssystemen. Bertram Kaschek schreibt dazu: „Für Borchert war sein Archiv nicht nur eine Ablage bereits geleisteter Arbeit und irgendwie angefallener Dokumente, sondern ein ständig gepflegtes, kommentiertes und benutztes Arbeitsinstrument.“ Dazu passen seine fotografischen Werkgruppen wie die „Familienportraits“ (1983-1985 und 1993-1994), „Semperoper“ (1977-1985) und die seit 1977 angelegte „DDR-Sammlung“. Die Qualität von Borcherts Werk ist auch darin begründet, dass seine archivarische Leidenschaft und sein analytischer Blick auf die Welt nicht in nüchtern-seelenlosen Bildern enden. Er schaffte es, serielles Arbeiten und behutsames Erzählen zu verbinden. „Christian Borcherts Werk bewahrt Blicke auf die Wirklichkeit: aufmerksam, teilnehmend, kritisch“, schreibt die Deutsche Fotothek in ihrer Einführung.
Es ist eine Herausforderung, einen fotografischen Nachlass zu sichern und zu katalogisieren. Doch was nützt ein solcher Bestand, wenn die visuellen Schätze dann in einer Kühlkammer lagern? Bei Christian Borchert ist auch die Vermittlung seines Werkes geglückt. Schon vor zehn Jahren hatte es Pläne für eine Retrospektive gegeben. Aus heutiger Sicht war es aber eher von Vorteil, mit mehr zeitlichem Abstand und im 30. Jahr des Mauerfalls auf das Werk zu blicken. Die VolkswagenStiftung, die Postdoktoranden-Projekte in Museen fördert, hat die Arbeit des Kunsthistorikers Bertram Kaschek finanziert und damit die aktuelle Ausstellung und das Buch ermöglicht. Die Deutsche Fotothek, die auch die Nutzungsrechte zu Christian Borchert innehat, hat im Rahmen eines Katalogisierungsprojekts und mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung 18.000 Arbeitsabzüge digitalisiert. Seit Ende März 2004 sind diese in der Bilddatenbank der Fotothek recherchierbar. Konkret sind das gut 12.000 Motive, da es bei den Arbeitsabzügen auch Dubletten gab. Immer noch eine immense Anzahl, doch der Leiter der Fotothek Jens Bove ist überzeugt, dass gerade die Sichtbarkeit im Internet dazu beiträgt, dass ein Archiv lebendig bleibt und ein erweiterter Blick auf ein Werk ermöglicht wird. So sind bereits mehrere Bücher zu Christian Borchert erschienen, zuletzt „Wege ins Land. Landschaften von Christian Borchert“, das 2019 von Jens Bove, Hansgert Lambers und Karen Weinert gemeinsam herausgegeben wurde (ex pose / hesperus print).
Für Jens Bove ist es auch ein Anliegen, dass ein Werk wie das von Christian Borchert „aus dem Osten rausgeht“. Konkret gelingt das durch eine Übernahme der Ausstellung durch das Sprengel Museum Hannover. International wurde Aufmerksamkeit für das Werk bei der letzten Messe Paris Photo geweckt. Die Berliner Loock Galerie präsentierte auf einer Wand ein Tableau mit Borcherts „Familienportraits“ und bot eine Mappe mit 50 Motiven an (s.a. Photonews 12/19-1/20, Seite 5). Die Baryt-Prints von Originalnegativen wurden 2019 von Ina Schröder gefertigt. Deutsche Fotothek und Loock Galerie agieren hier gemeinsam als Herausgeber. Das Interesse von Sammlern konnte zudem mit einigen Vintage Prints bedient werden, die u.a. aus dem Bestand von Hansgert Lambers stammten. Galerist Friedrich Loock hat die DDR-Fotografie zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit gemacht und sorgt mit dafür, dass ein Werk wie das von Christian Borchert im Markt Präsenz bekommt und damit neue Sammler.
Der Tod von Christian Borchert vor knapp 20 Jahren hat große Bestürzung hervorgerufen. Umso tröstender ist es, dass sein Nachlass so gut gesichert und vermittelt wird. Man wüsste zu gern, was der Fotograf und leidenschaftliche Archivar selbst dazu sagen würde.
Anna Gripp
(Der Text erschien erstmals in PHOTONEWS März 2020.)
Die Retrospektive „Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung“ war bis zum 8. März 2020 im Residenzschloss in Dresden zu sehen. Vom 17. Juni bis 20. September 2020 zeigt das Sprengel Museum Hannover die Ausstellung. Das begleitende Buch „Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung“ (496 Seiten) ist bei Spector Books, Leipzig, erschienen und kostet 42 Euro.