Ausgelagert, abgeschafft und weggeworfen Historische Pressebildarchive im digitalen Wertschöpfungsprozess
Historische Pressefotografie ist nicht nur ein Speichermedium, mit dessen Hilfe sich Informationen in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und elektronischen Medien über unsere Geschichte verbreiten lassen – historische Pressefotos sind auch materielle Objekte, die im Archiv verwaltet werden müssen, um ihre Informationen preisgeben zu können. Während dies bei aktuellen Fotografien inzwischen über digitale Datenbanken geschieht, gilt es für historische Pressebildarchive nur bedingt. Immense Kosten für Lagerung, sachgerechte Erschließung und Digitalisierung sowie der immer weniger gesehene Nutzen von historischen Pressebildarchiven in Verlagen haben dazu geführt, mitunter über ein halbes Jahrhundert oder länger angewachsene Sammlungen auszulagern, abzuschaffen oder gar einfach wegzuwerfen.
Gleichzeitig erfahren die Bilddokumentare in den verbliebenen Pressebildarchiven seit den 90er Jahren eine massive Veränderung ihres Berufsbildes: Da Verlagsarchive nur dann überlebt haben, wenn sie ihre Bilder an Dritte vermarkten konnten und damit Gewinne erwirtschaften, wurden aus Archivmitarbeitern Fotoagenten und Vertriebsprofis, Digitalisierungs- bzw. Datenbankspezialisten. Ganz nebenbei konfrontiert die Transformation analoger Bildarchive in digitale Daten Bilddokumentare mit veränderten Ordnungssystemen, Zugriffsbedingungen und einer gänzlich anderen Verwaltung des Archivguts. All dies vollzieht sich vor dem Hintergrund eines globalisierten Marktes bei massiv fallenden Honoraren für Fotoveröffentlichungen.
Britische Heringsfischer in der Nordsee, 1933. International Graphic Press – Ullstein Archiv (Vorder- und Rückseite), veröffentlicht: Berliner Morgenpost 24.10.1937, 12 Uhr Blatt, 26.05.1942
Wurden früher noch alle Bilder, die ein Verlag veröffentlichte, auch als bewahrenswert angesehen und im Ordnungssystem des Archivs abgelegt, damit sie erneut genutzt werden konnten, gelangten in den 90er Jahren aus Kostengründen nur noch die als die Wichtigsten eingestuften in das Archiv. Seit etwa zehn Jahren wird kein einziges Motiv mehr dort archiviert. Redakteure versuchen lediglich, die für ihre Aufgaben unverzichtbaren Motive auf Speichermedien abzulegen, wo sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr auffindbar sind und periodisch automatisiert gelöscht werden. Ein Archiv, das in der Lage ist, Bildmaterial zu archivieren und erneut bereitzustellen, wird nicht als notwendig erachtet. Die Bildarchive von Verlagen – früher wichtige Ressource für die Produktion, später belächelt und von der Schließung bedroht, rücken jedoch seit kurzer Zeit erneut in den Fokus der wirtschaftlich Verantwortlichen. Digitale Contentvermarktung zur Schaffung neuer Erlösquellen und die Mehrfachverwertung von digitalen Inhalten zur Kostenreduzierung sind die Stichworte.
Doch vermarkten und verwerten lässt sich nur, was digitalisiert, sachgerecht verschlagwortet, in einem Ordnungssystem schnell und zielgerecht wiederfindbar ist und was der Verlag publizieren kann, ohne sich in die Gefahr einer Rechtsverletzung zu begeben.
Kann es also gelingen, allein durch ihre Digitalisierung analoge Archive zu retten? Und: Kann die Digitalisierung ein historisches Pressebildarchiv vor dem Verlust von Informationen bewahren?
Im Ullstein-Archiv, der wohl weltweit größten, über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren zusammengetragenen Sammlung zur Geschichte der Pressefotografie, wird die Digitalisierung mit hoher Priorität vorangetrieben. Die so erschlossenen Bilder werden erfolgreich vermarktet. Aber die im Archiv verwahrten Abzüge und Negative – jahrzehntelang als Verlagsarchiv genutzt und dementsprechend vom Zerfall bedroht – können durch ihre Digitalisierung allein nicht vor Verlust geschützt werden.
Digitale Reproduktionen erhalten immer nur das Motiv und bewahren in digitalisierter Form als Datei weder ihre Historizität noch alle ihre Informationen. Digitalisiert wird ein Verlagsarchiv heute vor allem aus einem Grund: um die Bilder in digitale Assets zu verwandeln und damit Erlöse zu erzielen. Und nicht etwa, um das Archiv mit all seinen Informationen zu bewahren oder seinen Inhalt mit Blick auf Erhaltung eines Kulturgutes zu schützen. Sind die Bilder erst einmal digitalisiert, ist ein erheblicher Teil der Informationen nicht mehr abrufbar. Retuschen, Anrisse, Deckweiß- oder Klebebandausschnitte werden entfernt, Ausschnitte werden neu festgelegt, Details gehen verloren. Bilder werden in neuen Zusammenhängen abgelegt und befinden sich nicht mehr in der ursprünglichen Archivordnung. Die Rückseiten mit vom Fotografen oder vom Archivar verfassten Bildtext, dem Stempel des Fotografen mit Adresse und dem Hinweis zu Veröffentlichungen oder der im Original aufgeklebten Bildunterschrift werden ebenso wenig erfasst, wie der originale Ablageort im Archiv.
Nur der wirtschaftliche Erfolg in der Vermarktung bewahrt Archive heute vor ihrer vollständigen Auflösung – mit allen beschriebenen negativen Effekten. Verloren geht das Archiv im herkömmlichen Sinn. Bewahrenswert ist allein der monetarisierbare Anteil – unter Umständen auch durch einen Verkauf, denn die Fotografenoriginale stellen einen beträchtlichen Wert bei Kunstauktionen dar. Das heißt für Bildarchive heute: Digitalisierung zur Monetarisierung, die Sicherung aller Informationen im ursprünglichen Zusammenhang des Archivs hat keine Bedeutung.
Es ist daher zu diskutieren, ob nicht mit einem anderen Ansatz dem Erhalt historischer Pressebildarchive als historische Quelle und Kulturgut Rechnung getragen werden muss. Neben der Digitalisierung aus wirtschaftlichen Gründen, muss dafür plädiert werden, dass diese Archive nicht aufgelöst, auseinander gerissen und verkauft werden oder ihren vollständigen Informationsgehalt verlieren. Es ist ein Weg zu finden, sie als Kulturgut und historische Quelle insgesamt zu bewahren.
Dazu ist endlich eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten notwendig: Verlage, Kulturinstitutionen, Wissenschaft, Fotoschaffende und Öffentlichkeit. Gelingt es nicht, einen Konsens zwischen diesen herzustellen, sind die analogen Archive ganz oder teilweise für immer verloren. Die Gegenwart und die Zukunft der Fotografie sind ohne Zweifel digital, doch die analoge Vergangenheit müssen wir als Quelle bewahren – sie lässt sich nicht digitalisieren.
Frank Frischmuth (Der Autor ist Leiter der Agentur ullstein bild.)
Beitrag erstmals erschienen in PHOTONEWS 7-8/2010, Sonderheft »Archive und Nachlässe«