Die Fotostiftung Schweiz in Winterthur. Fragen an Dr. Peter Pfrunder

Thumbnail
Gotthard Schuh: Grubenarbeiter, Winterslag, Belgien, 1937. © Fotostiftung Schweiz

Die 1971 gegründete Fotostiftung Schweiz (Schweizerische Stiftung für die Photographie) betreut Nachlässe und Archive zahlreicher Schweizer Fotografinnen und Fotografen und nimmt zusammen mit ProLitteris auch deren Urheberrechte wahr. Die Nachlässe, bestehend aus mehr oder weniger vollständigen Negativarchiven, Originalabzügen, Kontaktkopien, Publikationsbelegen und Dokumenten, werden nach und nach aufgearbeitet und in Publikationen und Ausstellungen vorgestellt. Neuabzüge von ausgewählten Originalnegativen, die im Besitz der Fotostiftung Schweiz sind, können erworben werden. Zusätzlich zu einem Archiv mit über 50 Nachlässen betreut die Fotostiftung Schweiz eine Sammlung von rund 50.000 Originalabzügen herausragender Fotografinnen und Fotografen. Seit Ende 2003 befindet sich die Fotostiftung Schweiz in Winterthur und bildet dort zusammen mit dem Fotomuseum Winterthur das Zentrum für Fotografie. Gemeinsam führen Fotostiftung und Fotomuseum eine öffentliche Fachbibliothek zum Thema Fotografie.

Anna Gripp: Ist die Fotostiftung Schweiz die einzige Institution dieser Art in der Schweiz und damit auch potentiell eine Adresse für Nachlässe aus der gesamten Schweiz?

Dr. Peter Pfrunder: Die Fotostiftung Schweiz ist die älteste auf Fotografie spezialisierte Institution in der Schweiz und hat in den bald 40 Jahren ihres Bestehens im Umgang mit großen Archiven und Nachlässen reiche Erfahrung gesammelt. Während sie sich in den ersten zwei Jahrzehnten fast alleine um solche Bestände kümmerte, haben in neuerer Zeit auch andere Institutionen ein Interesse an fotografischen Nachlässen entwickelt – parallel zum wachsenden Stellenwert der Fotografie in Museen und auf dem Kunstmarkt. Auch die Aufwertung der Fotografie als historische Quelle hat dazu beigetragen, dass inzwischen sogar Staatsarchive und Bibliotheken in gewissen Fällen Fotoarchive übernehmen. Allerdings fehlt häufig der fotohistorische Kontext und das Knowhow für die Konservierung und Erschließung der fotografischen Bilder. Zu den Besonderheiten der Fotostiftung Schweiz gehört es, dass sie sowohl Aufbewahrungsort als auch Ausstellungsort ist. Damit kann sie – im Gegensatz zu den meisten anderen Institutionen, die Nachlässe übernehmen – auch der Ambivalenz des Mediums gerecht werden: Bei uns werden Fotografien sowohl in Bezug auf ihren dokumentarischen Wert als auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Ausdruckskraft beurteilt. Insofern ist die Fotostiftung Schweiz ein privilegierter Ort für die Aufbewahrung von Nachlässen, es gibt in der Schweiz keine andere vergleichbare Institution. Das ist auch der Grund, weshalb wir eng mit dem Bundesamt für Kultur zusammenarbeiten und einen nationalen Auftrag erfüllen. Das heißt, dass wir potentiell für die ganze Schweiz zuständig sind.

Was müssen Nachlässe bzw. Archive erfüllen, um von der Fotostiftung übernommen zu werden?

In der Regel übernehmen wir Archive, denen wir nationale Bedeutung zumessen und die eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen, also für eine bestimmte Position innerhalb der Fotografiegeschichte unseres Landes stehen. Unsere Sammlung ist dementsprechend nach Autoren organisiert und versucht, nicht nur Einzelbilder und Highlights, sondern eben ganze Werke mit ihren verschiedenen Facetten (inklusive Dokumenten) zu repräsentieren. Ein wichtiges Kriterium ist die Möglichkeit der Kontextualisierung der Fotografien (die ja nicht immer gegeben ist). In manchen Fällen verzichten wir auf die Übernahme: Wenn zum Beispiel ein ausgeprägter Regionalbezug vorhanden ist, versuchen wir, ein Archiv an die regional zuständigen Institutionen weiterzuvermitteln. Natürlich gibt es auch qualitative Kriterien, aber die lassen sich kaum abstrakt definieren. Es gibt zum Beispiel Archive, die fotohistorisch gesehen unbedeutend, aber von großem dokumentarischen Wert sind: Solche Archive werden von uns ebenfalls aufgenommen.

Wie finanziert sich die Stiftung?

Thumbnail
Jakob Tuggener: Drehbank, Maschinenfabrik Oerlikon 1949. © Jakob Tuggener-Stiftung, Uster

Die Fotostiftung Schweiz wird zu 60 Prozent von der Schweizerischen Eidgenossenschaft (d.h. durch das Bundesamt für Kultur) finanziert, weitere wichtige Beiträge stammen von der Stadt Winterthur und dem Kanton Zürich. Rund 30 Prozent unseres Budgets erwirtschaften wir mit Einnahmen aus Ausstellungen, durch den Verkauf von Produkten und Bildrechten sowie andere Dienstleistungen.

Haben Sie einen Etat für Ankäufe?

Innerhalb unseres Globalbudgets legen wir jährlich den Ankaufsetat fest, der aber relativ bescheiden ist (meist weniger als 5 Prozent). Der Zuwachs in der Sammlung beruht denn auch weniger auf Ankäufen auf dem freien Markt als auf der Zusammenarbeit mit Fotografen für konkrete Projekte, zum Beispiel bei Ausstellungen, wo wir uns an den Produktionskosten beteiligen und im Gegenzug Werke in die Sammlung erhalten. Archive und Nachlässe kaufen wir im Prinzip nicht. Die Übergabe großer Bestände beruht auf einem Vertrauensverhältnis, das über Jahre mit den Fotografen und/oder den Erben aufgebaut wird. Was wir bieten – langfristige Sicherung des Werks, Aufarbeitung, Vermittlung in Ausstellungen, etc. – ist ja sehr kostenintensiv und wird von den Donatoren als wertvolle Gegenleistung akzeptiert.

Demnach ist die Übernahme eines Archivs kaum mit einer größeren Geldzahlung verbunden. Müssen Sie hier zuweilen Erwartungen von Fotografen bzw. deren Erben enttäuschen? Inwieweit werden diese an evtl. Einnahmen durch die Wahrnehmung von Urheberrechten beteiligt?

Thumbnail
Marianne Breslauer: Galerie Lafayette, Paris 1929. © Marianne Breslauer / Fotostiftung Schweiz

Tatsächlich erhalten wir manchmal Angebote zum Kauf von Archiven, die von völlig falschen Voraussetzungen ausgehen. So werden zum Beispiel Preise, die für einzelne Werke auf Auktionen erzielt wurden, durch simple Multiplikation mit den im Archiv enthaltenen Bildeinheiten hochgerechnet, was zu astronomischen Summen führt… Solche Vorstellungen müssen wir natürlich enttäuschen. Unsere Haltung beruht auf zwei Grundsätzen: Erstens finden wir die kommerzielle Bewertung eines Archivs problematisch, weil meistens nur ein kleiner Teil des Archivs einen reellen Marktwert hat, der sich an konkreten Verkäufen überprüfen lässt; der Preis eines schönen, signierten Vintage Prints lässt sich leicht eruieren, aber wie soll man den Marktwert des dazugehörigen Negativs bestimmen? Und was ist ein Stapel von Presseabzügen wert, die nie für den Sammlermarkt hergestellt wurden und nie zum Verkauf gelangten? Zweitens erwarten wir, dass die Besitzer eines Archivs – sei es der Fotograf, seien es seine Erben – klare Prioritäten setzen: sie müssen sich entscheiden, ob sie damit möglichst viel Geld verdienen wollen oder ob ihnen die langfristige Erhaltung und kulturelle Verfügbarkeit wichtiger ist. Wer vor allem an einer Kommerzialisierung interessiert ist, ist bei uns an der falschen Adresse. Die Fotostiftung Schweiz tritt nicht als Marktplayer und als Konkurrentin zu Auktionshäusern auf, im Gegenteil: wir versuchen ja, bedeutende Werke dem Handel zu entziehen. Es ist wichtig, bei den Besitzern von Archiven das Bewusstsein für unsere Aufgabe zu schärfen und die Folgekosten darzulegen, die mit einer Archivübernahme verbunden sind. Dennoch haben wir Verständnis dafür, wenn einige Fotografen oder Erben ein finanzielles Angebot erwarten. Deshalb versuchen wir, wenn es uns gerechtfertigt scheint, Lösungen für eine Gegenleistung zu finden – auch wenn wir, wie gesagt, das Archiv als solches nicht kaufen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Man kann zum Beispiel ein klar definiertes Konvolut von Fotografien zu einem vernünftigen Preis ankaufen (bei gleichzeitiger Schenkung des eigentlichen Archivs). Oder man bestimmt gemeinsam mit den Fotografen oder Erben, welche Arbeiten man zum Verkauf an Dritte ausscheiden kann (z.B. Doubletten oder Neuabzüge), ohne dadurch den Kernbestand zu gefährden. Schließlich gibt es auch Fälle, bei denen eine Beteiligung an den Einnahmen aus den Verwertungsrechten vereinbart wird. Die Unterschiedlichkeit der Archive verlangt sorgfältig abgesprochene Lösungen, die auf die individuellen Verhältnisse Rücksicht nehmen.

Zu welchem Anteil wird Ihr Ankaufsetat von dem Förderverein Freunde der Fotostiftung Schweiz getragen?

Im Unterschied zu anderen Fördervereinen werden die Mitgliederbeiträge des Vereins Freunde der Fotostiftung Schweiz fast ausschließlich für den Ankauf von Fotografien verwendet. Diese bleiben im Eigentum des Vereins, werden aber von der Fotostiftung Schweiz betreut und verwaltet. Die Sammlung der Freunde bildet eine Spezialsammlung innerhalb der großen Sammlung der Fotostiftung und kann von ihr wie die eigenen Bestände genutzt werden. Die Ankäufe werden denn auch auf die Sammlung der Fotostiftung Schweiz abgestimmt, sie bilden eine wertvolle Ergänzung dazu. Waren es in früheren Jahren Meisterwerke der internationalen Fotografie – als Gegenstück zum Schweizer Schwerpunkt der Fotostiftung –, so werden heute Werkgruppen von zeitgenössischen Fotoschaffenden mit Bezug zur Schweiz gekauft, um auf diese Weise gewisse Lücken zu schließen. Der Ankaufsetat ist ungefähr gleich hoch wie jener der Fotostiftung Schweiz.

Welche Personen oder Gremien entscheiden darüber, welche Bilder bzw. Archive übernommen werden?

Thumbnail
Monique Jacot: Brocante, Paris 1962 © Monique Jacot / Fotostiftung Schweiz / Pro Litteris

Über Ankäufe und Archivübernahmen entscheidet die Direktion (Peter Pfrunder und Martin Gasser). Bei den Ankäufen der Freunde der Fotostiftung Schweiz entscheidet der Vorstand auf Empfehlung der Direktion. Jedem Ankauf gehen gemeinsame Beratungen zwischen Martin Gasser und mir voraus.

Wie können Ihre Archivbestände von Dritten genutzt werden? Versteht sich die Stiftung auch als Recherchequelle?

Sofern es der konservatorische Zustand und der Erschließungsgrad erlauben, sind unsere Archive und unsere Sammlung für professionelle Nutzer (nach Voranmeldung) zugänglich und stehen für Forschungs-, Ausstellungs- oder Publikationsprojekte zur Verfügung. Als Hilfsmittel für Recherchen führen wir ein elektronisches Inventar bzw. eine Datenbank, in der allerdings längst nicht jedes Bild einzeln erfasst ist. Gerade bei größeren Archiven mit zehntausenden von Bildeinheiten ist es manchmal unumgänglich, auf die entsprechenden Originalbestände und Findmittel wie Kontaktbögen oder Belegbücher zurückzugreifen. Bei Konsultationen durch Kuratoren und Autoren, die mit unserer Institution nicht vertraut sind, sind in der Regel Vorabklärungen sowie Begleitung und Beratung durch Mitarbeiter der Fotostiftung nötig. Auf unserer Homepage öffnen wir im Moment nur eine Art Schaufenster auf unsere Bestände – die dort veröffentlichte Datenbank repräsentiert erst einen Bruchteil der Sammlung. Wir sind dabei, die Online-Zugänglichkeit zu verbessern.

Kooperieren Sie mit vergleichbaren Institutionen im Ausland?

Am häufigsten ergeben sich Kooperationen mit Institutionen, die unsere Ausstellungen übernehmen. In Bezug auf den Umgang mit Archiven gibt es leider nur wenige Institutionen in Europa, die ähnlich ausgerichtet sind. Da haben wir nur punktuellen Austausch.

Inwieweit kann der Archivbestand weiter wachsen? Haben Sie die Chance, sich räumlich und personell zu erweitern?

Das ist ein ungelöstes Problem. Wir haben im Moment noch Reserven, werden aber zusätzliche Räume und vor allem auch mehr Personal benötigen, um längerfristig große Bestände aufnehmen zu können. Eine Erweiterung am jetzigen Standort ist denkbar, aber dafür müssten unsere Mittel deutlich aufgestockt werden. Unsere Tätigkeit wird, wie gesagt, hauptsächlich durch öffentliche Mittel finanziert, und das soll nach Möglichkeit auch so bleiben. Wir möchten uns nicht zu sehr in die Abhängigkeit von privaten Geldgebern begeben. Aber das heißt natürlich auch, dass im Moment keine großen Sprünge möglich sind.

Thumbnail
Kurt Blum: »Twist«, New York, 1962. © Fotostiftung Schweiz

Wie gehen Sie mit der digitalen Fotografie um? Können auch Datensätze von Bildern gesammelt werden?

Wir haben bis jetzt noch wenig Erfahrung mit rein digitalen Archiven. Natürlich kann man auch Datensätze sammeln, aber dafür sind wir nicht die geeignete Institution, denn dafür braucht es die entsprechende elektronische Infrastruktur und vor allem Serverkapazitäten statt klimatisierter Archivräume und Datenbankspezialisten statt Konservatoren. Man darf aber davon ausgehen, dass auch bei digitalen Archiven eine Anzahl Werke in materieller Form vorliegt: diese haben für uns erste Priorität. Ohne solche gültigen Werke bleiben die Daten beliebig manipulierbarer Rohstoff, der nicht einmal den Status eines Negativarchivs hat. Wir raten daher den Fotografen, die nur noch digitale Archive anlegen, von den wichtigen Bildern Masterprints herzustellen. Diese werden auch in Zukunft das Herzstück eines Archivs bilden, die Referenz, die das Aufbewahren der Daten erst sinnvoll macht.

Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft? Gibt es Aspekte, die Sie verbessern möchten?

Wir bräuchten eine Art Auffangbecken für Archive, die uns erhaltenswert scheinen, aber im Moment keine Chance haben, aufgearbeitet oder gar ausgestellt zu werden. Ein solches Zwischenlager könnte auch als joint venture mit anderen Institutionen eingerichtet werden, um gewisse gefährdete Bestände einfach einmal zu sichern und zu erhalten. Das Wissen, dass mit jeder Archivübernahme ein immenser Arbeitsaufwand verbunden ist, zwingt uns leider dazu, recht selektiv vorzugehen. Zugleich ist uns aber bewusst, dass unsere aktuellen Präferenzen zeitgebunden und subjektiv sind. Ein Zwischenlager würde diesem Umstand Rechnung tragen. Weitere Wünsche? Mehr Geld, mehr Platz, mehr Personal, um die Aufarbeitung der vorhandenen Archive vorantreiben zu können…

Weitere Informationen: www.fotostiftung.ch

Beitrag erstmals erschienen in PHOTONEWS 7-8/2010, Sonderheft »Archive und Nachlässe«