Doppelte Ökonomien. Vom Lesen eines Fotoarchivs

Fotografische Archive sind oftmals auch Grundlage für künstlerische Auseinandersetzungen. Das zeigt die von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Wanderausstellung »Doppelte Ökonomien. Vom Lesen eines Fotoarchivs aus der DDR (1967-1990)«, die im Frühsommer in Leipzig startete. Das gleichnamige Buch ist bei Spector Books, Leipzig, erschienen.

Zürschau im Altenburger Land ist eine von Google maps, Wikipedia und der Reiseauskunft der Bahn vergessene Ortschaft, quasi inexistent. Ein Ort, wie geschaffen für jemanden, der in einer durchgeplanten Gesellschaft Selbstständigkeit bewahren will. Für einen wie Reinhard Mende, Jahrgang 1930, bei Kriegsende aus Schlesien nach Thüringen geflüchtet, wo er Wagenmacher lernt, als Mühlenbauer arbeitet, sich für Fotografie begeistert, in der Zeitung veröffentlicht und seine Bilder schließlich auf der Pressefotoschau neben denen von Evelyn Richter, der wohl prominentesten Protagonistin ostdeutscher Autorenfotografie, wiederfindet. So wird aus dem Handwerker ein freier Bildreporter, der sein Einkommen zwischen 1967 und 1990 durch Werbefotografie sichert. In der DDR, die als kleinste soziale Einheit das Kollektiv anstrebte, war das die seltene Ausnahme.

Ironischerweise befand sich Mendes Einsatzgebiet oft in Volkseigenen Betrieben, wo er die fortschrittliche Produktion und pflichtbe- wusste Arbeiter fotografierte. Material für Messestände, Prospekte, Imagepflege, internationale Wirtschaftskontakte. Fotos an der Schnittstelle zweier Ökonomien: Einerseits zeigen sie inszenierte sozialistische Produktion, andererseits dienen sie kapitalistischer Vermarktung, insbesondere dem Außenhandel. Dieser Aspekt findet Ausdruck im Titel der prominent besetzten Ausstellung »Doppelte Ökonomien. Vom Lesen eines Fotoarchivs aus der DDR (1967-1990)«, die bis 1. Juli 2012 in Leipzig gezeigt wird und anschließend nach Genf und Zürich reist.

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Reinhard Mende, LFM Rundgang Pressevertreter 17.3.1976

Mendes Archiv umfasst rund 16.500 Fotos aus den Betrieben sowie von internationalen Delegationen auf der Leipziger Messe. Auch wenn er sagt, dass er zu den Wenigen in der DDR gehörte, die keine zwei Meinungen haben mussten – eine für die Funktionäre, eine private – und dem niemand in die Arbeit »reinquatschte«, so sprechen die Bilder eine andere Sprache. Sie zeigen schöne zufriedene Menschen hingebungsvoll bei der Arbeit, da wird Utopie verwirklicht, ein Wunschbild erzeugt. Nach einem Auftrag im Betrieb Fahrzeugelektrik Ruhla erhielt Mende den Anruf, dass er erneut hinmüsse: Die abgelichtete Arbeiterin durfte nicht mehr gezeigt werden, sie war in den Westen abgehauen. »In den Betrieben war manchmal so viel Unrat«, erinnert sich Mende, »man musste lange suchen, um eine Stelle zu finden, die man zumindest verantworten konnte«. Wenn eine Produktionshalle nur spärlich beleuchtet war, führte das zu Diskussionen mit den Abnehmern. Gelernte DDR-Bürger dachten sofort an Energieknappheit. Teure Präsentationen mussten mitunter ausgetauscht werden, weil auf ihnen beiläufig Orangen zu sehen waren. Mithin: kein leichter Job, von Filmknappheit und Belichtungszeiten zwischen einer Viertel- und einer halben Sekunde ganz zu schweigen.

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Reinhard Mende, Reportage Bad Blankenburg 1.6.1970

Mende fotografierte mit einer Pentacon Six, Mittelformat. Er entlockte ihr Bilder vorzüglicher Güte. »Doppelte Ökonomien« verdankt sich dennoch nicht der Qualität des Werks, sondern dem glücklichen Umstand, dass Tochter Doreen Mende Kuratorin ist, hervorragend vernetzt obendrein. Zusammen mit der Fotografiehistorikerin Estelle Blaschke und dem Künstler Armin Linke bildete sie das Kernteam. Unterstützend standen der Kunsthistoriker Philip Ursprung, Essayfilmer Harun Farocki, Wirtschaftshistoriker Matthias Judt zur Seite. Bei der Bildauswahl half Fotografiekurator Thomas Weski. Das Mende-Archiv wurde digitalisiert und eine Datenbank-Software programmiert, in die sich die Nutzung einschreibt.

Ausgangspunkt von »Doppelte Ökonomien« ist die Erkenntnis, dass sich ein Archiv nicht ausstellen lässt. Nicht bloß wegen der Materialmenge, sondern weil es ausgestellt kein Archiv mehr ist. Es wird sondiert, geordnet, gefiltert, Narrationen entstehen. Die Ausstellung beinhaltet 13 künstlerische Positionen, die das Archiv zum Teil inhaltlich ergänzen, zum Teil direkt nutzen. Olaf Nicolai konzentriert sich auf Fotos junger Frauen, Bardot-haft, dauergewellt oder mit Bubikopf, in Kittelschürze oder Messedress, zusammengefasst in einem Heft mit Titel »Girlfriends«. Auch Katrin Mayer geht vom Archiv aus, fokussiert jedoch auf die Verschiebungen, die sich zwangsläufig ergeben. Die Bedeutungen des Begriffs »Screening« zeigen dies auf: durchleuchten, überprüfen, filtern, schützen, verdecken und einiges mehr. Mayer verleiht dem Ausdruck, indem sie im Raum Mende-Fotografien mit Glasscheiben arrangiert – entspiegelt, getönt, matt, milchig, verspiegelt … Bettina Allamoda rückt mit »Landvermessung Babylon« ins Zentrum, was oft unreflektiert bleibt: Präsentationsstrategien, Ausstellungsdisplays. In den 90er-Jahren sicherte sie sich Einrichtungsteile des Optischen Museums Jena. Nun kombiniert sie Stücke aus dem Raum für Geodäsie mit Barrikaden, wie sie zur Kontrolle der Massen etwa bei Konzerten eingesetzt werden. Da trifft sich gut, dass der Blick von Allamodas Installation auf Harun Farockis »Die führende Rolle« (1994) fällt, ein aus TV-Nachrichten von 1989 montiertes Videoessay, in dem etwa ein ostdeutscher Demonstrant auf Reisefreiheit pocht mit den Worten »Weltanschauung kommt von Welt anschauen«. Ein Arbeiter beklagt, dass er sich trotz Übererfüllung des Plansolls niemals einen Videorekorder leisten könne, und der Sprecher bemerkt, dass die nach Maueröffnung in den Westen strömenden DDR-Bürger noch vor den unbedeutendsten Schaufenstern stehen blieben, statt in den Fabriken den Austausch mit Westkollegen zu suchen. Farocki in Hochform: lakonisch und wundervoll komisch. Zugleich eine Archivbefragung, die aufzeigt, wie wichtig es ist, sich dem auf PR ausgerichteten Mende-Archiv quellenkritisch zu nähern.

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Harun Farocki, aus Videoessay „Die führende Rolle“, 1994

Der Fotograf Sven Johne steuert seine den Aufbau Ost kontrastierende Serie »Ostdeutsche Landschaften« bei sowie »Bilder der Stadt Vinh«. Vinh, während des Vietnam-Kriegs weitgehend zerstört, entstand in den 70er-Jahren mit Unterstützung der Sowjetunion und der DDR neu. Johne stellt Bilder der verfallenen Plattenbauten den Beschriftungen von Fotos der DDR-Presseagentur ADN aus den 70er- und 80er-Jahren gegenüber. Bruderhilfe, Propaganda, Wandel der Zeiten. Diagramme von KP Brehmer, welche »Machtpotentiale« darstellen, ergänzen das Spiel zwischen Fakt und Fiktion. Die Otolith Group kombiniert in der Projektion »Communists Like Us« (Kommunisten wie wir) Fotos von chinesischen, indischen und sowjetischen Feministinnen mit dem revolutionären Diskurs aus Godards »La Chinoise«. Fotos aus Äthiopien, Mosambik und dem Senegal von Tekle Belete, Armin Linke, Malte Wandel und Christopher Williams greifen das Thema Auslandsbeziehungen auf. Der poetische Dokumentarfilm »The Forgotten Space« (Der vergessene Raum) von Allan Sekula und Noël Burch spürt der Infrastruktur des globalen Warenhandels nach – und den Folgen für die Betroffenen. Die womöglich stärkste Arbeit stammt von der Angolanerin Kiluanji Kia Henda. Der Strand, an dem sie als Kind badete, entwickelte sich zum Friedhof für Schiffe aus Ostblockstaaten. Eins davon zeigt das Triptychon »Karl Marx, Luanda«. Für die Badegäste sei Marx daher »nur der Name eines Schiffes, das in den Tropen gestrandet ist«.

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Kiluanji Kia Henda, Karl Marx Luanda, 2006

»Doppelte Ökonomien« gliedert sich in vier Teile: das Archiv, präsent auf Tafeln, die mehr verbergen, als sie zeigen; die künstlerischen Arbeiten, die ergänzen, illustrieren, reflektieren, kontrastieren und das Archiv erfahrbar machen; dem Kontext von Messematerial bis zum Quelle-Katalog; und viertens einem Interview-Teil, in dem unter anderem Reinhard Mende zu Wort kommt, Stasi-Material befragt wird und Hans Otto Bräutigam, von 1982 bis 1989 Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, über weitere Wirtschaftsfaktoren – Freikäufe, Transitgebühren – spricht.
Ein Archiv, das in Zürschau kurz davor stand, der Vergessenheit anheim zu fallen, ist auf gutem Weg, lesbarer denn je zu werden. Es ist weder in einem Museumsdepot noch in einem größeren Archiv verschwunden, sondern hat eine spannende Revitalisierung erfahren. Eine beachtliche Leistung. Eine gelungene Ausstellung sowieso.

Informationen zu dem Projekt: www.doubleboundeconomies.net

Hendrik Pupat
Der Text erschien erstmals in PHOTONEWS Juni 2012.